Eduardo Chillidas bibliophiles Werk Aromas (2000) gehört zu den späten grafischen Arbeiten und zeigt eindrücklich seine Auseinandersetzung mit immateriellen, unsichtbaren Phänomenen. Mit verdichteten Linienfeldern, die sich öffnen und überlagern, versucht Chillida hier das Flüchtige eines Duftes zu fassen – Bewegung, Ausbreitung und Verdunstung. Aromas wird zu einer poetischen Metapher für das Unsichtbare, das dennoch körperlich erfahrbar ist.
Alice Channers Rockpool (2023) übersetzt Naturerfahrung in eine künstlich überformte Materialität. Die Skulptur erinnert an ein ausgetrocknetes Wasserbecken, gefüllt mit Salz, und verweist zugleich auf die industrielle Gewinnung dieses Rohstoffs sowie auf ökologische Katastrophenbilder – etwa die Form eines Ölteppichs. Channer verbindet damit Schönheit und Fragilität mit der Spur menschlicher Eingriffe in die Natur. Rockpool wird so zu einem ambivalenten Bild ökologischer Realität, in dem Naturform und industrielle Ästhetik untrennbar ineinander verschränkt sind.
LIEBLINGSWERK:
Alice Channer, Rockpool (2023)
WAHL:
Regina Brülisauer, Direktionsassistenz Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell
«Als ich gefragt wurde, ob ich ein Lieblingswerk aus der Sammlung wählen möchte, habe ich sofort an Rockpool gedacht und mich sehr über die Möglichkeit des Wiedererlebens mit dem Werk gefreut. Bei meiner Einführung als Mitarbeiterin im Kunstmuseum Appenzell habe ich Rockpool zum ersten Mal gesehen. Wie es erstrahlte und mit unbändiger Präsenz den Raum dominierte, hat sehr persönliche Empfindungen in mir ausgelöst, die bis heute nachklingen. Für mich steht es für unbändige Kraft und Stärke, vermittelt jedoch auch Sehnsucht und Schmerz.»
Die Worte, in die Regina Brülisauer ihr Gefühl des ersten Erlebens fasst, finden Sie im Ausstellungsraum.
LIEBLINGSWERK:
Eduardo Chillida, Aromas (2000)
WAHL:
Bücherladen Appenzell
Der Bücherladen Appenzell von Carol Forster zählt nicht nur zu den schönsten Buchhandlungen, sondern versteht sich auch als lebendiger Kulturort mit vielfältigen Anlässen rund ums Buch. In Kooperation mit der Kunsthalle Appenzell organisiert er das zweijährliche Buchkunstfest «Kleiner Frühling», das an Pfingsten mit Lesungen, Diskussionen, Musik, Ausstellungen und Begegnungen an ungewöhnlichen Orten Literatur, Übersetzung und Kunst feiert.
«Kunst zwischen zwei Buchdeckeln. Ein Foliant. Geheimnisvoll. Der Inhalt erst beim Öffnen sichtbar werdend. Noch bevor wir das Buch aufschlugen, wussten wir, dass wir uns für Eduardo Chillida, Aromas entscheiden. Die Buchform als Aufbewahrungsort, als Schatzkammer für die losen Blätter des Künstlers. Beim Öffnen des Buches entblätterte sich uns ein hochpoetisches Werk, welches Eduardo Chillida zwei Jahre vor seinem Tod schuf.
Die Themen, die Chillida zeitlebens beschäftigten, sind zeitlos relevant und auch immer wieder in der Literatur zu verorten. Was ist Raum? Was ist Körper? Wie verhält sich das Dazwischen? Raum, Zeit, Stille, Rhythmus, Licht, Meer, Wolken, Luft, Toleranz, Poesie. Der Titel Aromas steht wohl für Inspiration, Umhüllung, letztlich Wahrnehmung mit allen Sinnen und Aufsaugen von allem, was dazwischen zu finden ist. Die Nase im Wind, die Augen offen, semipermeable Haut. Die Werke von Eduardo Chillida sind von der Natur und der Welt um ihn herum inspiriert. Blätter an einem Zweig, die Wellen des Meeres, der Wind und das Licht sind Elemente, die seine Arbeiten massgeblich beeinflussten. Er interessierte sich nicht für kubische Formen oder rechte Winkel, sondern für lebendige Linien.
Gegen Orientierung, Stabilität, Sicherheit und Wissen setzte er Unsicherheit und Staunen. Diese unbändige, lustvolle Lebendigkeit, gepaart mit Neugierde, Offenheit und einer grossen Sensibilität gegenüber der Natur und den Menschen verbinden das Denken des Künstlers eng mit dem Denken, dem Hinterfragen und Eintauchen in andere Welten von Literatinnen und Dichtern.
Yo soy un fuera de la ley (Ich bin ein Gesetzloser) sagte er über sich selbst.
Wörter öffnen Welten und verbinden. Sie umspielen unser Denken, nehmen uns gefangen, erzählen Geschichten und weiten unseren Horizont. Letztlich können sie uns Wegweiser, Leitplanken und Sehnsuchtsorte in unseren Lebensentwürfen sein. Chillidas Kunst tut dasselbe.
Pure Poesie.
Hay puertas al mar que se abren con palabras (Es gibt Türen zum Meer, die sich mit Worten öffnen)
(Rafael Alberti)
Was bleibt aber, stiften die Dichter
(Friedrich Hölderlin)