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Lieblingswerke

Sammlung

Kunstmuseum

Einleitung

Beziehungen, welche wir zu Kunstwerken pflegen, können uns sowohl persönlich als auch gesellschaftlich berühren. Die Kunst regt zum Nachdenken und zur kritischen Reflexion an, kann als Speicher für Geschichten, als Spiegel der Gesellschaft oder der eigenen Gefühle und Erfahrungen dienen und sie hilft dabei, uns mit anderen in Beziehung zu setzen. In dieser Ausstellung geht es um die Verbindungen, die zwischen den Kunstwerken und den Menschen bestehen, die sich mit ihnen auf ihre eigene Weise auseinandersetzen: sei es im alltäglichen Umgang, in der Arbeit oder in eher zufälligen Begegnungen. Menschen, die mit der Sammlung der Heinrich Gebert Kulturstiftung in Verbindung stehen oder durch ihr gesellschaftliches und kulturelles Engagement das öffentliche Leben in Appenzell und Umgebung mitgestalten, wurden eingeladen, ein Werk aus der Sammlung auszuwählen. Diese lebendige Auswahl bildet den Ausgangspunkt für eine Sammlungsausstellung und verbindet die Menschen unmittelbar mit der Kunst.

Werke wurden ausgewählt von:

Appenzellerland Tourismus, Asylzentrum AI, Regina Brülisauer, Bücherladen Appenzell, Sebastian Fässler, Myriam Gebert, Christian Hörler, Innerrhoder Kunststiftung, Kulturgruppe Appenzell, Simona Martinoli (Fondazione Marguerite Arp, Locarno), Christian Meier, Museum Appenzell, Standeskommission Appenzell Innerrhoden, Luca Tarelli

Raum 1

Christian Hörler, Stolen an den Stiefeln (3), 2018

Christian Hörler, Stolen an den Stiefeln (3), 2018

Die Werke treten hier in ein Spannungsfeld von Sichtbarem und Verborgenem, Natur und Kultur, Erdschwere und Abstraktion. Christian Hörlers Skulptur aus Lehm und Holz ruft das Archaische der Erde auf, während Zora Berwegers künstlerische Setzung Prozesse des Atmens und Transformierens evoziert und zugleich auf das Unsichtbare, Ungreifbare und Kosmische verweist. In dieses Spannungsfeld fügt sich Howard Smiths kleines Aquarell aus farbigen Punkten ein: Wiederholte Pinselstriche intensivieren sich zu feinen Farbmarkierungen, die Tiefe und Variation erzeugen. Trotz Kleinformat erreicht er eine intensive Farbrelation und Dichte – ein fragmentarischer, beinahe unscheinbarer Akzent, der durch die Reduktion auf das Geringste das Universelle berührt.

Eduardo Chillidas Radierungen fungieren wie Denkmodelle, in denen er Fragen von Gewicht, Raum, Spannung und Energie auf der Fläche erprobt. Verdichtete Linien verhaken sich zu kompakten, beinahe körperhaften Zentren, aus denen ein energetisches Ziehen und Drängen spürbar wird. Wie bei seinen Skulpturen geht es nicht um die Darstellung von Körpern, sondern um die Sichtbarmachung unsichtbarer Kräfte – ein Verlangen, das sich zwischen Fülle und Leere, Präsenz und Negativraum entfaltet. Dagegen übersetzt Matias Speschas Malerei Raum in strenge Farbfelder, die wie kartografische Fragmente wirken und eine innere Topografie andeuten: verdichtete Landschaften, die nicht abbilden, sondern an Horizonte, Täler und Übergänge erinnern.

Jochen Stenschkes Arbeiten mit Altöl, Grafit und Farbstift erzeugen Oberflächen, die zwischen Zeichenhaftigkeit und topografischer Lesbarkeit changieren – wie sedimentierte Karten einer beschädigten Welt. Der Einsatz von Altöl, einem Reststoff der industriellen Welt, bringt eine fast toxische Aura ins Spiel und verweist auf Gebrauch, Verbrauch und Vergänglichkeit. In diesem Material spiegeln sich zugleich ökologische Fragen, die auch in Alice Channers Rockpool (2023) anklingen – das Ineinandergreifen von Natur
und industrieller Spur, von Schönheit und Zerstörung.

LIEBLINGSWERK:

Howard Smith, Ohne Titel (2008)

WAHL:

Christian Hörler, Künstler + Sammlungs- und Ausstellungstechniker Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell

«Die Wichtigkeit des Einzelnen für das Rauschen des Ganzen.

Die Erinnerung an den Ausstellungsumbau für no end in sight von Howard Smith ist eine meiner schönsten. Ein wunderbarer Mensch. Seit dann gibt es immer Nüsse, Früchte und Schokolade für die Ausstellungshelfenden. Howard interessierte sich sehr für uns und unser Wohlbefinden. Aus einem Text von Roland Scotti zu seiner Arbeit und Gesprächen mit Museumsgästen über sein Werk entnehme ich heute: „…es geht und ging immer um Wertigkeit, um Wertschätzung, um das Miteinander des anscheinend Verschiedenen…“ So verschmelzen die Arbeiten Howard Smiths und seine Person zu ein und demselben.»

Raum 2

Alice Channer, Rockpool, 2022

Alice Channer, Rockpool, 2022

Eduardo Chillidas bibliophiles Werk Aromas (2000) gehört zu den späten grafischen Arbeiten und zeigt eindrücklich seine Auseinandersetzung mit immateriellen, unsichtbaren Phänomenen. Mit verdichteten Linienfeldern, die sich öffnen und überlagern, versucht Chillida hier das Flüchtige eines Duftes zu fassen – Bewegung, Ausbreitung und Verdunstung. Aromas wird zu einer poetischen Metapher für das Unsichtbare, das dennoch körperlich erfahrbar ist.

Alice Channers Rockpool (2023) übersetzt Naturerfahrung in eine künstlich überformte Materialität. Die Skulptur erinnert an ein ausgetrocknetes Wasserbecken, gefüllt mit Salz, und verweist zugleich auf die industrielle Gewinnung dieses Rohstoffs sowie auf ökologische Katastrophenbilder – etwa die Form eines Ölteppichs. Channer verbindet damit Schönheit und Fragilität mit der Spur menschlicher Eingriffe in die Natur. Rockpool wird so zu einem ambivalenten Bild ökologischer Realität, in dem Naturform und industrielle Ästhetik untrennbar ineinander verschränkt sind.

LIEBLINGSWERK:

Alice Channer, Rockpool (2023)

WAHL:

Regina Brülisauer, Direktionsassistenz Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell

«Als ich gefragt wurde, ob ich ein Lieblingswerk aus der Sammlung wählen möchte, habe ich sofort an Rockpool gedacht und mich sehr über die Möglichkeit des Wiedererlebens mit dem Werk gefreut. Bei meiner Einführung als Mitarbeiterin im Kunstmuseum Appenzell habe ich Rockpool zum ersten Mal gesehen. Wie es erstrahlte und mit unbändiger Präsenz den Raum dominierte, hat sehr persönliche Empfindungen in mir ausgelöst, die bis heute nachklingen. Für mich steht es für unbändige Kraft und Stärke, vermittelt jedoch auch Sehnsucht und Schmerz.»

Die Worte, in die Regina Brülisauer ihr Gefühl des ersten Erlebens fasst, finden Sie im Ausstellungsraum.

LIEBLINGSWERK:

Eduardo Chillida, Aromas (2000)

WAHL:

Bücherladen Appenzell

Der Bücherladen Appenzell von Carol Forster zählt nicht nur zu den schönsten Buchhandlungen, sondern versteht sich auch als lebendiger Kulturort mit vielfältigen Anlässen rund ums Buch. In Kooperation mit der Kunsthalle Appenzell organisiert er das zweijährliche Buchkunstfest «Kleiner Frühling», das an Pfingsten mit Lesungen, Diskussionen, Musik, Ausstellungen und Begegnungen an ungewöhnlichen Orten Literatur, Übersetzung und Kunst feiert.

«Kunst zwischen zwei Buchdeckeln. Ein Foliant. Geheimnisvoll. Der Inhalt erst beim Öffnen sichtbar werdend. Noch bevor wir das Buch aufschlugen, wussten wir, dass wir uns für Eduardo Chillida, Aromas entscheiden. Die Buchform als Aufbewahrungsort, als Schatzkammer für die losen Blätter des Künstlers. Beim Öffnen des Buches entblätterte sich uns ein hochpoetisches Werk, welches Eduardo Chillida zwei Jahre vor seinem Tod schuf.

Die Themen, die Chillida zeitlebens beschäftigten, sind zeitlos relevant und auch immer wieder in der Literatur zu verorten. Was ist Raum? Was ist Körper? Wie verhält sich das Dazwischen? Raum, Zeit, Stille, Rhythmus, Licht, Meer, Wolken, Luft, Toleranz, Poesie. Der Titel Aromas steht wohl für Inspiration, Umhüllung, letztlich Wahrnehmung mit allen Sinnen und Aufsaugen von allem, was dazwischen zu finden ist. Die Nase im Wind, die Augen offen, semipermeable Haut. Die Werke von Eduardo Chillida sind von der Natur und der Welt um ihn herum inspiriert. Blätter an einem Zweig, die Wellen des Meeres, der Wind und das Licht sind Elemente, die seine Arbeiten massgeblich beeinflussten. Er interessierte sich nicht für kubische Formen oder rechte Winkel, sondern für lebendige Linien.

Gegen Orientierung, Stabilität, Sicherheit und Wissen setzte er Unsicherheit und Staunen. Diese unbändige, lustvolle Lebendigkeit, gepaart mit Neugierde, Offenheit und einer grossen Sensibilität gegenüber der Natur und den Menschen verbinden das Denken des Künstlers eng mit dem Denken, dem Hinterfragen und Eintauchen in andere Welten von Literatinnen und Dichtern.

Yo soy un fuera de la ley (Ich bin ein Gesetzloser) sagte er über sich selbst.

Wörter öffnen Welten und verbinden. Sie umspielen unser Denken, nehmen uns gefangen, erzählen Geschichten und weiten unseren Horizont. Letztlich können sie uns Wegweiser, Leitplanken und Sehnsuchtsorte in unseren Lebensentwürfen sein. Chillidas Kunst tut dasselbe.

Pure Poesie.

Hay puertas al mar que se abren con palabras (Es gibt Türen zum Meer, die sich mit Worten öffnen) 
(Rafael Alberti)

Was bleibt aber, stiften die Dichter
(Friedrich Hölderlin)


Raum 3

Antoni Tàpies, Pintura blava amb arc de cercle, 1959

Antoni Tàpies, Pintura blava amb arc de cercle, 1959

Eduardo Chillida und Antoni Tàpies prägten die spanische Nachkriegskunst mit einer abstrakten Sprache, die Philosophie und Poesie eng mit der Erforschung von Material verband. Während Tàpies in seinen ‹Materialbildern› Erde, Sand und Farbe zu reliefhaften Oberflächen verdichtete, suchte Chillida in Eisen, Stein und Ton nach einer plastischen Form des Raums. In Pintura blava amb arc de cercle (1959) trägt Tàpies eine pastose Mischung aus blauer Farbe und Sand gestisch auf die Leinwand auf; Spuren, Zeichen und Abdrücke versinken in der dichten Oberflächenstruktur. Das Bild wird von sozialen Themen informiert, ohne dass diese explizit werden. Vielmehr bleibt ein grosser abgerundeter Körper im leuchtenden malerischen Mittel physisch präsent.

Die Frage nach Materialität, Oberfläche und ihrer Wirkung auf den Raum findet bei Gerold Tagwerker eine zeitgenössische Fortsetzung. In scan.portrait (2007) verdichten sich Glas, Drahtglas, Spiegel und Zinkblech zu einer Fläche, die reflektiert, verzerrt und filtert. Der Titel verweist auf das Scannen als Verfahren des Abtastens und Vereinfachens – das Portrait erscheint hier nicht als Abbild, sondern als Spiel zwischen Betrachter, Material und Raum.

LIEBLINGSWERK:

Gerold Tagwerker, scan.portrait (2007) /
Nesa Gschwend, Living Fabrics 8 (2018) → Raum 9

WAHL:

Innerrhoder Kunststiftung

Die Innerrhoder Kunststiftung, vertreten durch Rebekka Dörig-Sutter, Daniela Mittelholzer und Sandra Neff, fördert das zeitgenössische Bildende Kunstschaffen im Kanton Appenzell Innerrhoden durch Vergabe von Werk- und Förderbeiträgen sowie durch den Erwerb von Kunstwerken.

«Warum zwei Werke? Weil unsere Diskussion genau jene Spannbreite sichtbar machte, die zeitgenössische Kunst einnehmen kann: vom rauen Körpernahen bis zur gläsernen Reflexion. Als Gremium wählen wir nicht nach Geschmack; wir verhandeln Argumente, hören einander zu und lassen uns von Gegenstimmen überzeugen.

Die textile Arbeit von Nesa Gschwend (in Raum 9) war zunächst nicht in der engeren Wahl. Im gemeinsamen Hinschauen und Weiterdenken entfaltete sie jedoch eine eigensinnige Präsenz. Gschwend, aus der Textilgestaltung kommend, verknüpft Handarbeit – Stricken, Knoten, Nähen – mit performativen Prozessen und Alltagsmaterialien. Das bewusst Unordentliche, bisweilen schmuddelig Körperliche speichert Erfahrungen und stellt Fragen nach Erinnerung und Identität. Gerade diese Nähe zum Alltag, zum ‹Körper›, macht die Arbeit interessant: Sie ist nie nur schön, sondern berührt, fordert heraus und zeigt, wie sehr Stoffe Geschichten tragen. Dass Nesa Gschwend textile Techniken mit performativer Praxis verbindet, gehört zu ihrer künstlerischen Haltung.

Bei Gerold Tagwerker fiel die Entscheidung dagegen sofort. Seine streng organisierte, quadratische Arbeit erzielt mit einfachen Mitteln eine extreme Wirkung: Spiegel- und Spiegelfolienflächen nehmen Raum, Fenster und Betrachtenden auf. Ordnung und Raster treffen auf das Zufällige der Umgebung; das Werk ist nie identisch mit sich, sondern reflektiert buchstäblich seine Umwelt. So spiegelt es auch uns als Kommission, die Vielfalt differenziert verhandelt. Tagwerkers Einsatz von Spiegeln und Spiegelrückseitenfolien ist dafür zentral; die Präzision der Setzung lässt die Komplexität erst recht aufscheinen.

Gemeinsam zeigen diese beiden Positionen, wofür wir als Innerrhoder Kunststiftung stehen: für eine Auseinandersetzung mit Kunst in ihrer ganzen Breite. Die Auswahl ‹unserer› Werke macht nachvollziehbar, wie Gespräche Blickwinkel verschieben und gemeinsame Entscheidungen gefällt werden können.»

Raum 4

Hans Arp, Assiette, fourchettes et nombril, 1923

Hans Arp, Assiette, fourchettes et nombril, 1923

In diesem Raum begegnen sich Werke von Hans Arp und Wolfgang Nestler, die das Verhältnis von organischer Form, Material und Bildsprache ausloten. Arps frühes Relief spielt mit der humorvollen Verfremdung des Alltäglichen, während seine späten Marmorskulpturen elementare, poetische Formgestalten entwickeln. Nestler knüpft daran an: Die Holzschnitte verdichten organische Linien zu rhythmischen Flächen, und Ein Vogelei nur zum Bewundern (2013) übersetzt den Gedanken des Zweckfreien in eine fragile Balance. Gemeinsam entsteht ein Dialog zwischen dadaistischer Spielfreude, skulpturaler Abstraktion und zeitgenössischer Formpoesie.

LIEBLINGSWERK:

Hans Arp, Assiette, fourchettes et nombril (1923)

WAHL:

Simona Martinoli (Fondazione Marguerite Arp, Locarno)

Simona Martinoli ist Direktorin der Fondazione, wo sie die Sammlung von Jean Arp, Sophie Taeuber-Arp und Marguerite Arp sowie das Archiv und die Bibliothek leitend betreut und Ausstellungen, Forschung und kulturelle Aktivitäten koordiniert. Seit dem Jahr 2000 ist die Fondazione Kooperationspartnerin der Heinrich Gebert Kulturstiftung Appenzell.

«Anfang der 1920er Jahre beschäftigt sich der Dichter und Künstler Hans Jean Arp (1886–1966) mit dem Problem der ‹Objekt-Sprache›: ‹le problème du language-objet est apparu en 1920: nombril, horloge, poupée, etc..› sagt er anlässlich eines Gesprächs mit dem Künstlerfreund Camille Bryen (1). Es entstehen somit die ersten ‹Objet-Reliefs›, Werke aus bemaltem Holz oder Karton, in denen Objekte und Körperteile aus ihrem Kontext gelöst, fantasievoll kombiniert und manchmal zu hybriden Wesen verwandelt werden. Zum Bildrepertoire jener Zeit gehören alltägliche Gegenstände (Teller, Gabeln, Flaschen, Krawatten …) und Körperteile wie Köpfe, Schnurrbärte oder Nabel.

Die ausgestellte Arbeit Teller, Gabeln und Nabel (1923) ist ein wichtiges Beispiel dieses Relieftyps bei Arp und kennzeichnend für die Produktion der 1920er Jahre in der Übergangsphase vom Dadaismus zum Surrealismus, kurz vor dem surrealistischen Manifest von 1924.

Auf dem grauen Hintergrund sieht man einen weissen Nabel in einem blauen Teller, darunter zwei unterschiedlich grosse Gabeln, die grössere blau, eine der Lieblingsfarben Arps. Die humorvolle Kombination von einer organischen Form mit Artefakten erweckt unerwartete Assoziationen, die auch in Arps Gedichten auftauchen, wie beispielsweise im Text Isabelle et les assiettes (Isabelle und die Teller, 1951): ‹des assiettes-nombrils, / des assiettes originelles!› (2) Mit der Objekt-Sprache tritt eine Übereinstimmung zwischen dem dichterischen und bildnerischen Werk auf, was in der dadaistischen Zeit, als Arp eher mit geometrischen Formen arbeitete, nicht der Fall war.

Im Portfolio 7 Arpaden von Hans Arp, 1923, von Kurt Schwitters herausgegeben, wird die symbolische Bildwelt Arps in einer Reihe von Lithografien dargestellt. Der Nabel, der den Ursprung des Lebens symbolisiert und ins Zentrum von Arps dichterischem und bildnerischem Schaffen gerückt war, tritt auch hier hervor.

Warum ist Teller, Gabeln und Nabel mein Lieblingswerk? In Nabel und im Teller erkennt man die Form des ‹bewegten Ovals› – eine Urform des Arp’schen Bildvokabulars, die er als ‹Sinnbild der ewigen Verwandlung und des Werdens der Körper› (3) beschreibt. Eine Kombination, die kosmische Formen – wie Planetenringe – evozieren kann, wird mit Besteck zum Verspeisen angerichtet: Arps subversiver Humor zeigt sich hier in seiner reinsten Form.»

(1) «Colloque de Meudon» entre Arp et Bryen (1956), in: Jean Arp, Jours effeuillés, Paris, Gallimard, 1966, S. 432.
(2) Jean Arp, «Isabelle et les assiettes» (1951), in: Jours effeuillés, cit., S. 368.
(3) Unsern täglichen Traum..., Zürich, 1955, S. 12.


Raum 5

Christian Meier, Lochbild, 2012

Christian Meier, Lochbild, 2012

In diesem Raum wird das Portrait als Spiegel von Identität und Projektion ins Zentrum gerückt. Carl August Liners Frauenbilder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen eine von zeichnerischer Sensibilität geprägte Annäherung an das Motiv. Ihnen werden Selbstportraits von Nesa Gschwend gegenübergestellt, die das eigene Ich in prozesshafter, zeitgenössischer Sprache befragen. Christian Meier schliesslich erweitert mit Lochbild (2012) die Tradition des Portraits in eine experimentelle Bildsprache: er kombiniert zwei Bildnisse in einem Bild – das von Theodor Storm, der zahlreiche Gedichte schrieb, die Naturbilder mit Gefühlen von Sehnsucht und Melancholie verbinden, und das einer Chinesin. Mit einer 3D-Brille betrachtet, tritt das eine oder das andere Bild hervor, sodass die Wahrnehmung zwischen den Figuren oszilliert und beständig verunsichert wird. Hier entsteht ein Dialog zwischen tradiertem Rollenbild, selbstreflexiver Suche und experimenteller Dekonstruktion des Portraits.

LIEBLINGSWERKE:

Frauenporträts von Carl August Liner

WAHL:

Sebastian Fässler, Appenzell

Sebastian Fässler ist Goldschmied, Zeichner und Sennenhandwerker in Appenzell, der das traditionelle Familienhandwerk weiterführt und Materialien wie Leder, Metall und Stein kreativ kombiniert. Zudem entwirft er Objekte für verschiedene internationale Designer und verbindet so lokales Handwerk mit zeitgenössischem Denken. Er ist treuer Besucher, kritischer Betrachter und ein wertvoller Austauschpartner.

«Ich habe mich sehr gefreut über die Möglichkeit Werke auszuwählen und mich auf die Frauenporträts und Zeichnungen von Carl August Liner gestürzt. Zeichnungen sind erste Gedanken auf einem Blatt, spontan und zielgerichtet, eine Art von Glaubenssätzen – das interessiert mich auch in der zeitgenössischen Kunst.

In Appenzell bin ich mit der bildenden Kunst, mit dem Vater Liner (Carl August Liner) und Johannes Hugentobler, später mit dem Sohn Liner (Carl Walter Liner), aufgewachsen. Als Kind waren die ein grosses Thema. Die Genauigkeit von Vater Liner, als Chronist und ultimativer Zeichner von Appenzell, hat mich beeinflusst. Er war ein guter Beobachter. Doch die Liner-Werke um uns waren keine Schlüsselwerke, eher leicht verschoben, lieblich, unauffällig im Format oder Darstellung, auch nicht schön.

Das frontale Porträt seiner Tochter Martha erstaunt. Es zeigt eine Stimmung ausserhalb der ländlichen Gegend, ein modernistisches Denken, leicht irritierend. Die Porträts zeigen einen Aufbruch – aber Liner wagt es nicht, ihn ganz auszudrücken. Das Wagnis nicht eingehen wollen, das ist eine Geschichte im Appenzell: gefallen zu wollen, selbst in der Provokation. Doch die Klarheit von Entscheidungen ist so wichtig wie Schreiben und Lesen zu lernen. Wenn ich das genaue Hinschauen bei anderen finde, dann verstehen wir uns nonverbal – die Künstler werden zu Verbündeten.

Entscheidend für mich ist die Frauenrolle in der Periode von 1890 bis in die 1920er Jahre, aus der die Zeichnungen und das Gemälde stammen. In den Porträts sind sie selbstbewusst, nehmen ein Schicksal an, entsprechen ihrer Zeit. Ihre Blicke sind nicht wahnsinnig glücklich – mit einer Bestimmtheit fragend und nachdenklich. Frauen hatten eine starke Position, aber alles wurde auf ihr Frausein reduziert. Bei allen habe ich das Gefühl, wären sie in ihrer Zeit gefördert worden, könnte alles anders aussehen.

Die angedeutete Kleidung, die hat Liner ganz spezifisch gewählt und so präzise wie die Textilien selbst gezeigt. Sie sagen etwas über den Stand und das Leben aus. Textil, eine Ausdrucksform, die immer entscheidend ist, und immer entscheidend sein wird.»

Seine Auswahl ergänzte Sebastian Fässler mit Stücken aus seiner Sammlung.


Raum 6

Carl August Liner, Appenzeller Landschaft beim Einnachten, o.J. / undated

Carl August Liner, Appenzeller Landschaft beim Einnachten, o.J. / undated

Hier entfaltet eine nächtliche Stimmung zwischen romantischer Naturerfahrung und Abstraktion. Carl August Liners Mondschein- und Abendlandschaften beschwören die stille Poesie des Dämmerlichts, festgehalten im malerischen Gestus. Miriam Prantls 2009 entstandene Lichtinstallation Lichtpunkt übersetzt dieses Motiv in die Sprache der Technologie. Einen weiterführenden Bogen schlägt Theodoros Stamos mit Infinity Field – Lefkada Series, for C.D. Friedrich (1980/81), das die romantische Tradition Caspar David Friedrichs aufnimmt und in abstrakte Farbflächen überführt. Dunkle Felder, durchzogen von leuchtenden Rändern, öffnen den Blick ins Unendliche: eine Landschaft der Erinnerung, die Naturerfahrung mit spiritueller Transzendenz verbindet.

LIEBLINGSWERKE:

Carl August Liner, Alp Sigel im Mondschein (o.J.), Appenzeller Landschaft beim Einnachten (o.J.), Abendstimmung in Sonnenhalb (o.J.); Miriam Prantl, Lichtpunkt (2009)

WAHL:

Museum Appenzell

Das Museum Appenzell widmet sich Objekten zur Geschichte, Kultur und Kunst des Appenzellerlands. Es vermittelt Traditionen wie Brauchtum,
Handwerk und Volkskunst durch Ausstellungen und Veranstaltungen. Birgit Langenegger, Martina Obrecht und Lucia Genova trafen ihre Wahl in Reaktion auf ihre aktuelle Ausstellung im Museum Appenzell: Nachts. Von Schlafzimmern, Sternen und Laternen (bis zum 25. Mai 2026).

«Zwischen Mondschein und LED-Pixel

Abendstimmung in Sonnenhalb, Appenzeller Landschaft beim Einnachten, Alp Sigel im Mondschein. So lauten die Titel der Werke von Carl August Liner. Man kann sich vorstellen, wie Liner Senior abends mit der Staffelei losgezogen ist und diese besonderen Stimmungen eingefangen hat. Kein Mensch ist auf den Werken zu sehen, nur Landschaften – in Abendlicht oder Mondschein getaucht. Eine Natur, die Ruhe ausstrahlt und zum Innehalten einlädt.

Zur selben Zeit, um 1900, waren in Europa sogenannte Mondscheinkarten beliebt: Ansichtskarten, auf denen Landschaften, Dörfer und Städte durch blauen Überdruck und einen stilisierten Vollmond in nächtliche Romantik gehüllt wurden. Auch aus Appenzell Innerrhoden sind solche Motive überliefert – etwa der Äscher, der Hohe Kasten oder das Dorf Appenzell im Mondschein. Technisch simpel, aber wirkungsvoll – die Sujets widerspiegeln eine vergleichbare Sehnsucht nach der Poesie der Nacht, wie sie auch in Liners Werken zum Ausdruck kommt.

Heute ist uns die Nacht ohne künstliches Licht fremd geworden. Während Liner mit dem Pinsel das Dämmerlicht festhält, arbeitet Miriam Prantl mit LED-Pixeln. Ihre Lichtinstallation Lichtpunkt, rund hundert Jahre nach Liners Arbeiten entstanden, besteht aus neben- und untereinander angeordneten LED-Pixeln. Diese leuchten in programmierten Sequenzen und formen sich zu immer neuen Mustern. Das Werk zieht einen in ein Wechselspiel von Farbe, Licht und Rhythmus hinein. Mal erstrahlen die Pixel leuchtend hell und monochrom in knalligen Neonfarben, mal tanzen flirrende Lichtpunkte in Pastelltönen aus der Reihe. Mit abnehmendem Tageslicht gewinnt das Werk an Strahlkraft – am intensivsten ist diese wohl nachts, wenn das Museum längst geschlossen ist.»

LIEBLINGSWERK:

Carl August Liner, Fähnern bei Sonnenuntergang (o.J.)

WAHL:

Kulturgruppe Appenzell

Die Kulturgruppe Appenzell organisiert seit den 1980er-Jahren ein vielfältiges Kleinkunstprogramm mit Veranstaltungen in den Bereichen Musik,
Kabarett und Film. Ihre Aktivmitglieder sind Silvio Signer, Monica Dörig, Monika Bischofberger, Alfred Fässler, Toni Kölbener, Carole Dobler
und Maria Inauen. Die Kulturgruppe ist Kooperationspartnerin und organisiert seit 2018 Veranstaltungen in der Kunsthalle.

«Scheinbar unscheinbar und kleiner als ein A4-Blatt, geht diese Fähneren von Liner neben den grossformatigen Werken fast unter. Nicht aber für uns, hat Liner doch das warme Licht der Abendstimmung perfekt auf die Hartfaserplatte gebracht. Diese Aussicht und die Stimmung stimmen ziemlich genau damit überein, was wir und die Künstlerinnen und Künstler, die bei uns auftreten, jeweils von der Kunsthalle aus sehen können. Zwischen dem feinen Nachtessen am grossen Tisch und dem Beginn der Vorstellungen, bleiben häufig noch ein paar Minuten für Landschaftsgenuss und nicht selten geraten die Auftretenden (und wir) beim Blick in Richtung Fähnerenspitz ins Schwärmen. Und überhaupt, als Verein, der Kleinkunst veranstaltet, sind wir natürlich Fans der kleinen Form und der Farbigkeit, die hervorragend zu den kulturellen Farbtupfern passt, die wir nach Appenzell bringen.»

Raum 7

Ernst Ludwig Kirchner, Ringer in den Bergen (Sertigdörfli), 1926

Ernst Ludwig Kirchner, Ringer in den Bergen (Sertigdörfli), 1926

Hier richtet sich der Blick auf die Berglandschaft als kulturellen wie künstlerischen Resonanzraum. Ernst Ludwig Kirchners Ringer in den Bergen (Sertigdörfli) (1926) verbindet expressive Farbigkeit und monumentale Gebirgsformen mit der Darstellung von Menschen im Ringkampf. Carl August Liners Schwingfest, Appenzell (1924) greift das gleiche Motiv auf, jedoch in heiterer, volkstümlicher Atmosphäre. Hans Krüsis Bild eines Appenzeller Hauses ergänzt diesen Dialog aus naiver, poetischer Perspektive und verweist auf das alltägliche Leben in der alpinen Landschaft.

LIEBLINGSWERK:

Ernst Ludwig Kirchner, Ringer in den Bergen (Sertigdörfli) (1926)

WAHL:

Standeskommission Appenzell Innerrhoden

Die Standeskommission Appenzell Innerrhoden ist die Exekutive des Kantons. Sie wird vertreten von Roland Dähler, Regierender Landammann (Volkswirtschaftsdepartement), Angela Koller, Stillstehende Frau Landammann (Erziehungsdepartement), Monika Rüegg Bless, Frau Statthalter (Gesundheits- und Sozialdepartement), Ruedi Eberle, Säckelmeister (Finanzdepartement), Stefan Müller, Landeshauptmann (Land- und Forstwirtschaftsdepartement), Hans Dörig, Bauherr (Bau- und Umweltdepartement), Jakob Signer, Landesfähnrich (Justiz-, Polizei- und Militärdepartement).

«Politische Auseinandersetzungen werden oft mit einer Arena verglichen – einem Schauplatz, auf dem Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Ideen und Werten aufeinandertreffen, um das bessere Argument ringen und damit die anderen Anwesenden zu überzeugen suchen. Der Begriff hat historische Wurzeln in den antiken Amphitheatern, wo Wettkämpfe ausgetragen wurden und kulturelle Aufführungen stattfanden – und dabei nicht minder um Einfluss und Macht gerungen wurde. In dieser Analogie zum politischen Geschehen wirkt Kirchners Ringer in den Bergen als kraftvolles Statement. Das Bild erinnert an die sportliche Tradition des Schwingens und stellt diese vor der rauen und zugleich majestätischen Bergwelt dar.

Das Gemälde fängt die Dynamik und Konzentration der Ringer ein, die am Rande des Dorfes kämpfen – in einem Talkessel und umgeben von Zuschauern. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass Kirchner den Bildrand als gestalterisches Element miteinbezog. Die kräftigen Linien und das intensive Farbspiel auf dem Rahmen des Bildes deuten auf eine fortlaufende Bewegung hin und lassen das Bild über seine Grenzen hinauswachsen. 

Wird der Kantonsregierung zugestanden, auch einmal ‹über den Rand zu malen›? Oder soll und muss sie sich stets an den vergebenen Rahmen halten? Erwartet man das von ihr? Ist sie mutig, wenn sie es nicht tut? Oder verwegen? Auf Abwegen gar?»

LIEBLINGSWERK:

Hans Krüsi, Ohne Titel (o.J.)

WAHL:

Appenzellerland Tourismus, vertreten durch Guido Buob, Andrea Manser und die Lernenden Zoe Rusch und Flavia Schmid

«Wir haben das Bild von Hans Krüsi gewählt, weil es die Appenzeller Landschaft auf eine ganz eigenwillige Art darstellt. Es erinnert uns einerseits an die perfekten Bauermalereien zahlreicher bekannter Appenzeller Bauernmaler. Andererseits lieben wir die Fröhlichkeit, die Farbigkeit und das Verspielte bis hin zu Schalk und Witz. Typisch Appenzell, typisch Krüsi! In einem Satz: Es ist unperfekt-perfekt.»

Raum 8

Carl Walter Liner, Komposition Schwarz / Weiss / Gelb (Eccesia), 1962

Carl Walter Liner, Komposition Schwarz / Weiss / Gelb (Eccesia), 1962

Raum 8 versammelt Werke, die menschliche Erfahrung zwischen Hoffnung und Bedrohung, Aufbruch und Gewalt sichtbar machen. Jonathan Bragdons Jessies Geburt (1983) zeigt eine tiefschwarze Form, die an ein Tor, Spiegel oder Gesicht erinnert, ohne sich festlegen zu lassen. Sie wird zum Symbol des Unbestimmten, zum Bild des Vergänglichen und Flüchtigen, das den Blick nach innen lenkt und eine meditative, existenzielle Erfahrung eröffnet – zugleich weist der Titel auf den Beginn des Lebens. Lorenz Springs Selbstgespräch (1993) legt eine innere Zerrissenheit offen, während Walter Angehrns Schriftarbeit Lohnt sich das lohnt sich... (2019) in knapper Sprache Fragen nach Wert und Sinn aufwirft.

LIEBLINGSWERK:

Lorenz Spring, Selbstgespräch (1993) / 
Carl Walter Liner, Wasserträgerinnen (1937) → Raum 5

WAHL:

Bushra und Nayab Khalid / Asylzentrum Appenzell

Bushra und Nayab Khalid besuchen regelmässig das ‹Offene Atelier für Junge› in der Kunsthalle Appenzell – ein gemeinsamer Raum zum Gestalten, der zusammen mit dem Asylzentrum Appenzell entstanden ist und junge Menschen einlädt, mit der Kunstvermittlerin Domenika Chandra kreativ zu werden.

«Es mussten zwei Werke sein – darüber gab es keine Diskussion: Die Wasserträgerinnen (1937) von Carl Walter Liner und Selbstgespräch (1993) von Lorenz Spring. Das Motiv der drei Wasserträgerinnen von Carl Walter Linder rief bei den Schwestern Erinnerungen an ihre Heimat Pakistan wach. Dort mussten sie selbst Wasser holen und es zu Fuss nach Hause tragen, auch das Balancieren von Lasten auf dem Kopf ist ihnen vertraut. Ganz anders dagegen die Begegnung mit Lorenz Springs Werk: Bushras Reaktion war unmittelbar: «Wenn man dieses Bild anschaut, bekommt man sofort Stress». Die auf die Leinwand gekritzelten Worte Brutale Welt verbanden die beiden mit den Erfahrungen, die sie zum Verlassen der Heimat brachte. Dieses Werk, sagten sie, ‹zeigt den Grund, weshalb wir hier sind.›»

Raum 9

Nesa Gschwend, Living Fabrics 8, 2018

Nesa Gschwend, Living Fabrics 8, 2018

Der Raum kreist thematisch um den Körper und seine Abwesenheit, um Spuren, Hüllen und Fragmente, die von Vergänglichkeit, Verletzlichkeit und Transformation erzählen. Gemeinsam verhandeln die Werke Fragen nach Materialität und Erinnerung – wie der Körper und das Leben in künstlerischen Formen aufbewahrt, verwandelt oder aufgelöst werden. Selim Abdullah und Andrea Ostermeyer verweisen auf die physische Präsenz des Körpers, während Haviva Jacobson und Gertrud von Mentlen den Zwischenraum von Figuration und Abstraktion, sichtbarer Natur und Erinnerung, Bild und Stimmung thematisieren. Ihre Werke bieten einen Eindruck von Vergänglichkeit, von Wetter, Dunst, wechselnden Lichtverhältnissen. Judith Maria Glaus und Roswitha Dörig arbeiten mit reduzierten Formen, die wie eingeschriebene Zeichen wirken und zugleich auf Körperfragmente, Hüllen und die Spur einer Geste verweisen. Nesa Gschwend schliesslich integriert gebrauchte Kleidung in ein prozessuales Werk, das das Soziale und Intime des Körpers aufruft.

LIEBLINGSWERK:

Selim Abdullah, Figura orizzontale (Liegende Figur) (1983)

WAHL:

Myriam Gebert, Stifterin und ehem. Stiftungsrätin der Heinrich Gebert Kulturstiftung

In Anerkennung seiner grosszügigen Schenkung an die Sammlung der Stiftung übertrug Myriam Gebert ihre Wahl dem Künstler Selim Abdullah. Der Künstler schreibt:

«Diese Skulptur, die ich 1983 geschaffen habe, Bronze, gehört nun zur Kulturstiftung Heinrich Gebert, worüber ich mich sehr geehrt fühle. Für mich stellt sie einen wichtigen Punkt meiner stilistischen und poetischen Reifung dar: Die Skulptur hat eine dichte materielle und räumliche Struktur und drückt gleichzeitig eine Dramatik aus, die mit einer bestimmten historischen Situation verbunden ist, nämlich dem Massaker von Sabra und Shatila, das 1982 in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon stattfand. Im Folgenden zitiere ich die Bemerkung des Kunstkritikers und -historikers Piero Del Giudice. Vielleicht wäre dies auch eine Gelegenheit, an die unendliche Tragödie dieses Volkes zu erinnern, das für Verbrechen bezahlen muss, die es nicht begangen hat: ‹Die horizontale Figur zeigt einen Körper, dessen Bein über die gesamte Länge aus dem Stand herausragt. Die Bewegung hat jedoch keine expressive Gewalt, sondern neigt eher dazu, einen Bogen zu bilden, der Oberkörper und Bein umfasst. Sie erinnert uns an die von der Hitze aufgeblähten und in der Strenge des Todes angespannten Leichen von Sabra und Shatila, die hier durch die Krümmung gemildert werden. Die Figur erinnert an die Seiten von Jean Genet in seiner Kurzgeschichte Vier Stunden in Chatila: ‹[...] die schwarzen Wollstrümpfe, das Kleid mit rosa und grauen Blumen, das etwas hochgerutscht oder zu kurz war und die schwarzen, geschwollenen Waden enthüllte, immer noch mit den violetten Streifen, die ich auf den Wangen bemerkt hatte [...].›(4)»

(4) Piero Del Giudice, Qualità della materia e dello spazio in Selim Abdullah, in: Selim Abdullah. Sculture e disegni, Castelgrande di Bellinzona, Bellinzona, 1993, S. 13.

Raum 10

Stefan Inauen, Friends of hopeless chairs No. 6, 2024

Stefan Inauen, Friends of hopeless chairs No. 6, 2024

Unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen verbinden sich zu einem vielschichtigen Interieur, in dem das Alltägliche in neuer Form erfahrbar wird. Stefan Inauens Friends of Hopeless Chairs (2024-25) transformieren Gebrauchsgegenstände in skulpturale Bildträger, bei denen das Malerische unmittelbar mit Materialität und Farbe verschränkt ist. Claudia Desgranges setzt mit ihrer Farbfeldmalerei einen Kontrapunkt, der die autonome Präsenz der Farbe betont und das Thema des Malerischen somit auf eine konzeptuelle Ebene hebt. Jim Dines’ expressive Amaryllis und Carl August Liners poetische Pflanzenstudie verorten das Sujet hingegen im klassischen Motivkanon des Stilllebens. So entfaltet sich ein Dialog zwischen Objekt und Bild, sowie zwischen Abstraktion und Figuration, in dem die Malerei als zentrales Medium erscheint.

LIEBLINGSWERK:

Stefan Inauen, Friends of Hopeless Chairs (2024-25)

WAHL:

Christian Meier, Künstler + Museums- und Ausstellungstechniker Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell

gewählt «schon auch, weil:

- sie sich wahnsinnig meinen.

- das Entzückende an den Bastarden darin besteht, dass sie sich im Unwohl- und Unsichersein gemütlich eingerichtet haben.

- sie den einzig gangbaren Weg des Umgangs mit Nostalgie begehen: den der ‹Kaputtmachung›.

- sie sich lediglich in das sehr unpraktische Geheimfach zwischen der Kunst- und der Designschublade hineinstecken lassen und selbst da immer wieder rausfallen.

- sie durchaus besessen sein könnten, wenn auch nur von Ärschen.

- die kleine Bande sehr ungeduscht daherkommt und trotzdem frisch ist.

- ihre Lieblingssportart Wohnen ist.

- sie es sich verdient haben, ungequält gezeigt zu werden.

Vor allem aber, weil sie das haben, was mir heute oft fehlt: sie sind freundlich, ohne harmlos zu sein.»

Raum 11

Guadalupe Ruiz, Bogotà D.C., 2002

Guadalupe Ruiz, Bogotà D.C., 2002

In diesem Raum verschiebt sich der Fokus vom malerischen Interieur zum dokumentarischen Blick auf das Alltägliche. Im grossformatigen Werk Bogotá D.C. (2002) von Guadalupe Ruiz wird eine kaleidoskopische Sammlung von Wohnräumen entfaltet, in denen Bilder, Objekte und Möbel zur sozialen Kartierung einer Stadt werden. Die Reliefs Die alte blaue Rose (1984) und Fragment (1986) von Beat Zoderer sowie Jim Dines Lithografie von Werkzeugen, Untitled (Tools) (1970), erweitern diesen Kontext: Fragmente, Muster und Gebrauchsgegenstände werden als formale und symbolische Elemente hervorgehoben. So setzt der Raum das Thema des Vorhergehenden – das Ineinandergreifen von Kunst und Alltag – fort und öffnet es zugleich hin zu Fragen sozialer Differenz, Erinnerung und der Bildhaftigkeit alltäglicher Dinge.

LIEBLINGSWERK:

Guadalupe Ruiz, Bogotà D.C. (2002)

WAHL:

Luca Tarelli, Assistenz Ausstellungen, Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell

«Die Steuerbehörde von Bogotá, D.C. hat die Wohnhäuser der Stadt in sechs Kategorien eingeteilt. Die Kriterien basieren auf architektonischen Werten: der Qualität des Dachs, dem Material der Eingangstür, den Baukosten sowie der Beschaffenheit des Bodens vor dem Haus. Im Jahr 2002 folgte Guadalupe Ruiz diesen Kategorien sozialer Differenz und legte eine fotografische Karte der kolumbianischen Hauptstadt an. Sie fotografierte das Innere der Wohnhäuser – Räume voller Bilder. Entstanden sind soziokulturelle Porträts der lateinamerikanischen Metropole in der aufstrebenden Globalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In allen Räumen sind Konsumgüter und Bilder angehäuft, die von der nahen postkolonialen Vergangenheit zeugen: Familienfotos, Kopien von kunsthistorischen und religiösen Gemälden in auseinanderberstenden Holzrahmen, Zertifikate von Schulabschlüssen sowie auf Vorhänge, Teller, Vasen und um Kalender gedruckte Motive. Zeichnungen und Fotografien hängen übereinandergelegt und dicht gedrängt an den Wänden. Filme, Werbung und Nachrichten teilen sich die Bildschirme der Fernseher.

Die formale Gleichstellung der nebeneinander aufgehängten 114 Fotografien hebt ihre soziale Differenz nicht auf. Von unten nach oben nimmt der Wohlstand der Bewohnenden kontinuierlich ab. Doch Ruiz zeigt nicht das Leben der Personen – ihre Körper fehlen in dieser Arbeit –, sondern das der Bilder, die durch das reale Leben rhythmisiert werden. Ruiz scheint weniger an einer Repräsentation kolumbianischen Lebens interessiert zu sein, als an der metabolischen Kraft unmittelbarer Lebensumstände für Bilder und Kunst. Die Bilder, Figuren, Möbel und Pflanzen finden in ihrer Akkumulation über die Zeit hinweg eine Gemeinsamkeit. Verarbeitet und in andere Materialien übertragen, setzen sie ihr Dasein fort – nahe bei schlafenden und liebenden Körpern, als stille Zeugen sozialer Beziehungen und Differenzen.

Warum dieses Werk? In den letzten Jahren habe ich in vielen Wohnungen geschlafen – bei Fremden, bei Freunden, bei deren Familien. Für eine Nacht gehört das Zimmer mir und meine Träume den Bildern an den Wänden.»

Impressum

KURATORIN
Stefanie Gschwend (Direktorin Kunstmuseum / Kunstmuseum Appenzell)

ORGANISATION 
Stefanie Gschwend, Regina Brülisauer, Luca Tarelli

AUSSTELLUNGSUMBAU
Christian Hörler, Christian Meier, Ueli Alder, Raoul Doré, Flavio Hodel, Dominik Hunn, Luca Tarelli

KUNSTVERMITTLUNG
Domenika Chandra

BESUCHENDENBETREUUNG
Rita Maria Dobler, Dominique Franke, Margrit Gmünder, Ian Groll, Priska Hüsler, Xiaoping Meier, Barbara Metzger, Heneisha Morris, Yvonne Pola, Madleina Rutishauser, Luca Tarelli, Petra Zinth 

HERAUSGEBER
Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell

TEXTE 
Stefanie Gschwend, Beteiligte Lieblingswerke

LEKTORAT 
Carmen Ebneter, Stefanie Gschwend, Luca Tarelli

ÜBERSETZUNG 
Stefanie Gschwend

GRAFIK 
Data-Orbit / Michel Egger, St.Gallen

DANK 
Appenzellerland Tourismus, Asylzentrum AI, Monika Bischofberger, Regina Brülisauer, Guido Buob, Bücherladen Appenzell, Roland Dähler, Carole Dobler, Hans Dörig, Monica Dörig, Rebekka Dörig Sutter, Alexandra Elias, Alfred Fässler, Sebastian Fässler, Carol Forster, Myriam Gebert, Lucia Genovese, Christian Hörler, Isabella Husistein Schmid, Vanja Hutter, Maria Inauen, Innerrhoder Kunststiftung, Bushra Khalid, Nayab Khalid, Krupa Art Foundation, Toni Kölbener, Angela Koller, Kulturgruppe Appenzell, Agata Ingarden, Birgit Langenegger, Andrea Manser, Simona Martinoli (Fondazione Marguerite Arp, Locarno), Christian Meier, Daniela Mittelholzer, Museum Appenzell, Stefan Müller, Sandra Neff, Martina Obrecht, Neri Pagnan collection, Piktogram, Berthold Pott, Monika Rüegg Bless, Zoe Rusch, Flavia Schmid, Michelle Schoch, Silvio Signer, Jakob Signer, Standeskommission Appenzell Innerrhoden, Martin Lucas Staub, Luca Tarelli, Dr. Kerstin and Wolfgang Van Kerkom, Tanguy Van Quikenborne, Leihgeber*innen, die nicht namentlich genannt werden möchten / lenders who wish to remain anonymous

Lieblingswerke
Sammlung
Kunstmuseum
Christian Hörler, Stolen an den Stiefeln (3), 2018

Christian Hörler, Stolen an den Stiefeln (3), 2018

Alice Channer, Rockpool, 2022

Alice Channer, Rockpool, 2022

Antoni Tàpies, Pintura blava amb arc de cercle, 1959

Antoni Tàpies, Pintura blava amb arc de cercle, 1959

Hans Arp, Assiette, fourchettes et nombril, 1923

Hans Arp, Assiette, fourchettes et nombril, 1923

Christian Meier, Lochbild, 2012

Christian Meier, Lochbild, 2012

Carl August Liner, Appenzeller Landschaft beim Einnachten, o.J. / undated

Carl August Liner, Appenzeller Landschaft beim Einnachten, o.J. / undated

Ernst Ludwig Kirchner, Ringer in den Bergen (Sertigdörfli), 1926

Ernst Ludwig Kirchner, Ringer in den Bergen (Sertigdörfli), 1926

Carl Walter Liner, Komposition Schwarz / Weiss / Gelb (Eccesia), 1962

Carl Walter Liner, Komposition Schwarz / Weiss / Gelb (Eccesia), 1962

Nesa Gschwend, Living Fabrics 8, 2018

Nesa Gschwend, Living Fabrics 8, 2018

Stefan Inauen, Friends of hopeless chairs No. 6, 2024

Stefan Inauen, Friends of hopeless chairs No. 6, 2024

Guadalupe Ruiz, Bogotà D.C., 2002

Guadalupe Ruiz, Bogotà D.C., 2002

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