
/ 1
Langjähriger Direktor der
Heinrich Gebert Kulturstiftung Appenzell
Roland Scotti wurde 1957 in Ludwigshafen geboren. Als Sohn französischer Eltern machte er früh die doppelte Erfahrung von Fremdheit und Weltoffenheit, die sein Leben in zwei Kulturen begleiteten. Beides prägte ihn sehr und machte ihn Zeit seines Lebens sensibel und widerständig zugleich. Nach Studien der Kunstgeschichte in Heidelberg und vielfältigen kuratorischen und publizistischen Tätigkeiten in verschiedenen Städten Deutschlands, war er von 1997 bis 2006 Direktor des Kirchnermuseums Davos. Dort entwickelte er bereits seinen unverwechselbaren Ausstellungs-Stil, den er ab 2006 bis zu seiner Pensionierung 2022 in Appenzell zur Entfaltung brachte.
Als Direktor der Heinrich Gebert Kulturstiftung Appenzell (Kunstmuseum/Kunsthalle Appenzell) und Stiftungsrat der assoziierten Fondazione Arp Locarno kuratierte er in diesen 16 Jahren über 100 Ausstellungen, trieb die Professionalisierung der zwei Häuser voran, publizierte zahlreiche und vielbeachtete Schriften und Kataloge, übernahm Lehraufträge und schaltete sich immer wieder in Diskussionen zu zeitgenössischer Kunstvermittlung und zur Aufgabe von Kunst und Museen ein.
2014 wurde Roland Scotti auch in den Stiftungsrat der Innerrhoder Kunststiftung gewählt und wirkte bis 2024 mit. Grössere Projekte in dieser Zeit waren beispielsweise die 2016 zusammen mit der Ausserrhodischen Kulturstiftung umgesetzte Ausstellung «à discrétion. Ausgezeichnetes Kunstschaffen in Appenzeller Gasthäusern», 2019 die Publikation und Ausstellung «Ohne Titel» zum 20-jährigen Jubiläum der Innerrhoder Kunststiftung oder die Kunstlandschaft Appenzell, eine Flanieranleitung zu kulturhistorischen Schätzen und zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum.
Scotti liess sich nicht von der Angst leiten, dass seine Arbeit zu wenige Leute erreichen könnte. Zumindest machte es nicht den Anschein. Seine Ausstellungen waren bisweilen mutig und sperrig und stellten sich auch immer wieder in den Dienst von unbekanntem und lokalem Kunstschaffen. Unvergessen ist zum Beispiel die grosse Ausstellung AppNC’ell now von 2020. Dass seine legendären Vernissage Ansprachen nicht immer nur Zustimmung auslösten und nie von allen vollständig verstanden wurden, nahm er hin mit der Bemerkung, dass man nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören lernen müsse. Aber Scotti war weit davon entfernt, dass es ihm nichts ausmachte, wenn wenig Leute kamen oder wenn man ihn nicht verstand. Er wollte, dass man verstehen konnte, aber er weigerte sich, diesen Wunsch für die Sache in die Angst vor Zurückweisung umzuwandeln.
Mit der Zeit befiel ihn daher immer stärker ein Unbehagen im Kunstbetrieb, der nach seinem Geschmack zu sehr von den Aufmerksamkeits-Gesetzen des Marktes und persönlichen Karrierezielen seiner Akteure geprägt ist. Er kritisierte die Gefrässigkeit einer totalen Gegenwart, die vergisst, woher sie kommt und daher auch nicht mehr wissen kann, wohin sie geht. Ich habe mich manchmal mit ihm über diese Themen ausgetauscht und wir brachten es auf die Formel: Wer kein Kind seiner Zeit sein will, ist ein Dummkopf, wer nur Kind seiner Zeit ist, verbreitet die Dummheit.
In einem sehr bedeutsamen und langen Brief an die Berliner Künstlerin Jana Noritsch gab sich Roland Scotti kurz vor seinem Tod über dieses Unbehagen Rechenschaft. Er schreibt:
«Im Irrglauben, dass es in der Moderne müssig wäre, sich mit der Vergangenheit intensiv zu beschäftigen, haben wir in gewisser Weise das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wir, die Kunstwissenschaftler haben nahezu eine Tabula rasa aufgebaut, ein voraussetzungs- und nutzloses Gestell, dessen Stütze allein die Behauptung ist, dass jede künstlerische Äusserung in sich sinnvoll sei. « Und er fährt fort: «Wenn ich den aktuellen Kunstbetrieb von aussen betrachte – mit einer möglicherweise durch mein Alter bedingten inneren Distanz – so fehlt mir oft die Tiefe.»
Dieses Bohren nach Tiefe war Scotti wichtig – sowohl in der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler als auch in der Planung und Durchführung der Ausstellungen. Daher lag ihm auch die Museumspädagogik mehr und mehr am Herzen, die er zusammen mit der Kunst-Vermittlerin Anna Beck-Wörner weiterentwickelt hat. In ihrer Schrift mit dem schönen Titel «Neue Wege der Kunstvermittlung im ländlichen Raum» definieren sie die Arbeit der Vermittlung als den «beständigen Austausch von Können und Wissen zwischen allen Beteiligten». Dort steht auch ein Satz von Oscar Wilde, der allein schon als Manifest für die Kunstvermittlung gelten kann, indem er Künstlerin, Vermittler und Betrachtende in den Raum des Deutens einbezieht: «Denn ein Maler ist nicht auf das beschränkt, was er in der Natur sieht, sondern was auf der Leinwand gesehen werden kann.»
Wie Roland Scotti auch höchstpersönlich dafür sorgte, dass auf der Leinwand mehr gesehen wird, konnte man manchmal am eigenen Leib erfahren. Als ich einmal zufällig den Aufbau der Ausstellung zu Howard Smith besuchte, winkte er mich nach hinten, er wolle mir etwas zeigen, führte mich vor ein Bild und sagte nichts. Nun, ich verstand sofort, das war jetzt eine Prüfung, ob ich auf den Farbflächen mehr sehen konnte als dass da Farbe war. Ich fiel natürlich durch, was ihn aber noch nicht dazu veranlasste, mich aufzuklären, sondern nur zu einer kleinen Geste mit dem Kinn, dann noch ein kleiner Schritt nach vorne und ein leises «Schau dahin» und «Hier sieh». Ich fühlte mich geehrt, dass er glaubte, dass ich selber darauf käme und ich kam auch darauf. Aber erst viel später als Resultat des langen, suchenden und nichtwissenden Hinsehens, wozu er mich damals sanft gezwungen hatte.
Scotti wollte, dass mehr Leute mehr auf so einer Leinwand sehen können. Und wörtlich war seine Freude diebisch, wenn Leute Kunst betrachteten, die sonst vielleicht eher Naturkräfte suchen wie an der Ausstellung zu Emma Kunz oder über den Bauern, der einmal extra kam, um ein Werk des Künstlers Wols zu betrachten, weil er dieses irgendwo schon einmal gesehen hatte und es ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Diebisch, weil die knappe, umkämpfte und oft ungerecht verteilte Aufmerksamkeit für einmal den mächtigen Bild- und Emotionsmaschinen entzogen war. Sein subversives, geradezu sozialistisches Ziel, das er für seine Museen verfolgte, war also nichts weniger als die Umverteilung der Aufmerksamkeit.
Dem Kampf um die Besucherzahlen konnte sich auch Scotti nicht ganz entziehen. Doch in diesem Kampf geht allzu schnell die grosse Vielfalt der Aufgaben eines Museums vergessen. Deshalb hat Scotti ein möglichst umfassendes Museumsverständnis immer verteidigt und seine Arbeit auf eine breite Grundlage gestellt: «Ein Museum ist eine gemeinnützige, dauerhafte Einrichtung, die der Öffentlichkeit zugänglich ist und dem Erwerb, der Erforschung, der Konservierung, der Vermittlung und der Ausstellung des materiellen und immateriellen Erbes der Menschheit und ihrer Umwelt zu Bildungs-, Studien- und Unterhaltungszwecken dient.»
Roland Scotti ist am 31. August – viel zu früh – nach kurzer, schwerer Krankheit in Arbon am von ihm geliebten Bodensee verstorben. Sein freundlicher, eigensinniger Charakter wird gewiss allen, die ihn kannten, in Erinnerung bleiben. So sei dieser zum Schluss noch mit den treffenden Worten des langjährigen Weggefährten und Vizepräsidenten der Heinrich Gebert Kulturstiftung Dr. Philipp Egger skizziert: «Die Arbeit mit Roland Scotti war stets Genuss und Herausforderung zugleich – menschlich wie inhaltlich. Ich habe von ihm viel gelernt. Er war ein gebildeter, gescheiter, von Kunst und Kultur imprägnierter Mensch. Aus der Tiefe von Wissen und Erfahrung schöpfte dieser fragile und doch starke Mann eine enorme Schaffenskraft. Freundlich und witzig war er, aber nie stromlinienförmig oder zeitgeistig-platt. Dazu war er viel zu gescheit, ehrlich und ernsthaft. Wenn es in seinen Augen schalkhaft blitzte, äusserte sich kein lautes Lustigtum, sondern ein abgründiger, entlarvender und zuweilen auch schwarzer Humor. Seine Ausstellungen und Publikationen waren klug, und sie provozierten – im besten Sinne des Wortes. Unvergesslich sind seine Führungen. Wer da in Appenzell hinhörte, war zugleich in der Welt. Roland fehlt.»
Rolf Bossart, Lehrer am Gymnasium Appenzell, Diskussionspartner und Freund von Roland Scotti