Stefanie Gschwend, Direktrorin Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell
12 Rooms
Die Stiftung Vordemberge-Gildewart vergibt jährlich ein Arbeitsstipendium an Künstler*innen unter 35 Jahren. In Kooperation mit Ausstellungshäusern wird der Stipendienwettbewerb seit 1983 in verschiedenen europäischen Ländern durchgeführt. Die mit 60‘000 Schweizer Franken prämierte Auszeichnung gehört zu den höchstdotierten Nachwuchsförderungen in Europa. Initiiert wurde die Vergabe des Stipendiums von der Stifterin Ilse Leda, der Ehefrau des Künstlers Friedrich Vordemberge-Gildewart (1899–1962).
Der, bzw. die Gewinner*in des Arbeitsstipendiums wird von einer unabhängigen internationalen Jury auf der Grundlage einer Gruppenausstellung ausgewählt, welche die Stiftung Vordemberge-Gildewart dieses Jahr zusammen mit dem Kunstmuseum Appenzell organisiert. Die Ausstellung zeigt einen Querschnitt junger, zeitgenössischer Kunst und vereint zwölf Kunstschaffende, die in der Schweiz aktiv sind. Ausgewählt wurden die Nominierten aus knapp 120 künstlerischen Positionen, welche die Kuratorin gesichtet hat. Ein weites Spektrum an Medien, das von Malerei, Skulptur, Installation, Fotografie, Keramik, Zeichnung, Performance, Text, Video bis zu Sound reicht, spiegelt die vielfältigen künstlerischen Praktiken wider. In zwölf Räumen des Kunstmuseums Appenzell zeigen die nominierten Künstler*innen ihr Schaffen.
Alfredo Aceto (*1991, Turin, ITA, lebt und arbeitet in Genf, CH)
Natacha Donzé (*1991, Boudevilliers, CH, lebt und arbeitet in Lausanne, CH)
marc norbert hörler (dey/er, *1989, Appenzell, CH, lebt und arbeitet in Appenzell, CH und Berlin, DE)
Maya Hottarek (*1990, Chironico, CH, lebt und arbeitet zwischen ITA und CH)
Jeanne Jacob (*1994, Neuchâtel, lebt und arbeitet in Biel/Bienne, CH)
Roman Selim Khereddine (*1989, Zürich, CH)
Robin Mettler (*1993, Cormoret, CH, lebt und arbeitet in Bern, CH)
Martina Morger (*1989, Vaduz, LI / Appenzell, CH, lebt und arbeitet in Balzers, LI und Hannover, DE)
Anina Müller (*1997, St. Gallen / Appenzell, CH, lebt und arbeitet in Basel, CH)
Tina Omayemi Reden (*1991, Zürich, CH)
Nina Rieben (*1992, Bern, CH, lebt und arbeitet in Bern und Basel, CH)
Yanik Soland (*1990, Basel, CH)
Die Gewinnerin des Vordemberge-Gildewart Stipendiums 2023 ist Tina Omayemi Reden.
Alfredo Aceto erkundet in seiner Installation die labyrinthischen Bezüge unterschiedlicher Elemente und Bilder, die durch Gegenüberstellungen, Übersetzungen und Anekdoten miteinander verbunden sind. Seine Objekte, Plastiken und Fotografien fügen sich zu einer obsessiven Erzählung zusammen, die in der Figur von Sergio Marchionne (1952–2018) – einem italienisch-kanadischen und in der Schweiz ansässigen Unternehmer und Manager – zusammenlaufen und eine fragmentierte Reflexion über Machtstrukturen bilden. Gemein ist den Objekten auch das Verhältnis zur Körperlichkeit, der an- oder abwesend, in Bezug auf den Künstler selbst, seine Zunge, seine Sprache, seine Geste oder auf seinen Protagonisten erscheinen kann.
Natacha Donzé befragt in ihrem Werk soziale Codes, Stereotype, Alltäglichkeiten und Fabeln der Populärkultur. Ihre Bildkompositionen isolieren, wiederholen oder kombinieren Form, Fläche, Farbe und Symbole aus den unterschiedlichsten Kulturbereichen, der digitalen oder natürlichen Welt. Die Künstlerin schafft in ihren neusten Airbrushmalereien eine vielschichtige Formensprache, in der die Beziehung zwischen den figurativen und abstrakten Elementen der Leinwand offengelassen wird.
marc norbert hörlers Praxis umfasst Poesie, Gesang, Duft, Schreiben, Performance, Kuratieren und Publizieren. marc komponiert räumliche, akustische und olfaktorische Umgebungen mit einem Interesse an sinnlichem Erzählen. In den Werken interagiert marc mit folkloristischen Formen oder Ästhetiken von Appenzell (CH), wie der Hexerei und Hexenprozessen, und beansprucht diese aus einer queeren Perspektive. marc spürt den sinnlichen Verbindungen zwischen zeitgenössischer Queerness und historischen Gegebenheiten nach, indem Gesang, Duft und Sprache als ephemere Existenzformen eingesetzt und magische Praktiken in den Mittelpunkt gestellt werden.
Maya Hottarek beschäftigt sich mit handwerklichen Techniken wie der Keramik oder der Glasblaserei. Ihre oft von der Decke herunterhängenden geheimnisvollen Objekte formen sich zu einer mystischen Landschaft, die an verschlungene Pfade, Wurzelgewächse oder tropfende Grotten erinnern. Manchmal aktiviert die Künstlerin sie mit Räucherstäbchen, Wasser, Licht oder in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Julian Zehnder mit Ton. In den Plastiken reflektiert sie das unabhängige Wesen und interaktive Verhalten eurokaryotischer Zellen; die kleinste Form aller Lebewesen. Die Mikroorganismen stehen zur selben Zeit für sich und im Austausch mit dem Ökosystem und ermöglichen es der Hottarek, über die Grenzen von Arten, Geschlechtern, Klassen und Familien hinwegzudenken.
Jeanne Jacobs künstlerisches Schaffen umfasst hauptsächlich Malerei, Performance und Zeichnung. Ihre Arbeit ist mitgeprägt von ihrem aktiven, politischen Engagement und der Arbeit in Kollektiven, ist inspiriert von queer-feministischen Theorien sowie der zeitgenössischen Soziologie. Jacob malt Menschen und Körper, die sich unmittelbar und ehrlich zeigen und thematisiert ohne Umschweife verborgenste Bereiche der Intimität. Häufig von einer unschuldig dargestellten Natur umgeben und geschützt, füllen die Figuren die Bildfläche, so dass eine Vertrautheit mit dem Gegenüber geschaffen wird. Sinnlich und intim, zärtlich und unzähmbar, komisch und verletzlich befinden sie sich in einer Art Schwebezustand, in dem Ideale unterlaufen werden und Widersprüche möglich sind.
Roman Selim Khereddine interessiert sich für soziale, ökonomische und kulturelle Fragestellungen, denen er sich mit Video, Zeichnung, Malerei, Text, Objekt und Installation annähert. Er schafft Bezüge zum Religiösen und Symbolischen oder stellt das Materielle in den Vordergrund. Sein Interesse gilt den Beziehungsstrukturen und Machtverhältnissen zwischen Menschen, aber auch der gewaltgeprägten Relation von Mensch und Tier. Der Künstler schafft keine kohärenten Erzählungen, sondern erkundet seine Themen essayistisch, mittels Anekdoten, Zitaten oder Sprichworten, Abschweifungen oder Umwegen und Pausen. In den Leerstellen wird deutlich, was in allen seiner Werke mitschwingt: die Infragestellung der eigenen Methode und der Konstrukte des Erzählens.
In seinen plastischen Arbeiten beschäftigt sich Robin Mettler mit dem Transformationspotenzial von Material, das er mit unerwarteten technischen und handwerklichen Eingriffen bearbeitet. Er kombiniert den Wassertransferdruck, wie man ihn aus der Tuningszene kennt, mit Rokoko-Stuck, evoziert mit Styropor und Bauschaum die Wirkung von Stein, Marmor oder Granit, oder er kombiniert Stilelemente verschiedener Epochen und kultureller Kontexte, um im Spiel mit der Erscheinung der Materialität unsere Wahrnehmung ins Wanken zu bringen. Seine Plastiken haben oftmals die Aufwertung von günstigem Baumaterialien gemeinsam.
Martina Morger schafft gesellschaftskritische Performances und Installationen, die oft situativ entstehen und einen Bezug zum Ort haben. Zentrale Fragen kreisen um die individuelle Freiheit und ihr Verhältnis zur technologisierten Lebenswelt oder zu Konstruktionen von Geschlechterrollen. Die Künstlerin untersucht die Rolle des Leistungsanspruchs in unserer konsumgeprägten Gesellschaft und welche Auswirkung die Machtstrukturen auf den Körper haben. Dabei versteht sie ihre Arbeit als Positionierungen innerhalb des bestehenden Systems und andererseits als Behauptungen gegenüber eben jenem System. Morger kreiert erzählerische Utopien zwischen Fürsorge und Begehren und transportiert darin eine widersprüchliche Sehnsucht nach Freiheit und Sichtbarmachung von Kontrolle.
Anina Müllers künstlerisches Medium ist die Sprache, wobei ihr Interesse vor allem ihrem Einfluss auf die Menschen gilt. Sie schreibt Monologe und Texte zu Themen wie Liebe und Klischees, Erwartungen und Wünsche oder Gemeinschaft und Einsamkeit und konfrontiert in ihnen die Realität mit fiktionalen Erzählungen, die bis zum Absurden reichen können. In der Auseinandersetzung mit diesen Themen reflektiert die Künstlerin immer wieder stereotypische Rollenbilder, berührt die fragile Grenze zwischen Gewalt und Vergnügen oder kontrastiert die Leichtigkeit der Erzählung mit der Schwere des Inhaltes.
Tina Omayemi Reden arbeitet transdisziplinär als Künstlerin, Lehrerin und Kulturarbeiterin. Im Zentrum ihrer Praxis stehen Kollaborationen und die Erforschung politischer Möglichkeiten, die sie in Fürsorge- und Hörpraktiken und der daraus resultierenden Beziehungsgeflechte, Sehnsüchte und Wünsche reflektiert. Reden arbeitet mit Installationen, klanglichen Erzählungen, Video oder Performances. Ihre Arbeit versucht, Momente des Austauschs und des Zusammenseins zu schaffen, um die Möglichkeiten an den Schnittstellen von Zuhörpraktiken, Gemeinschaftsräumen und kollektiven Geschichten weiter zu untersuchen.
Nina Rieben stellt Fragen darüber, welcher Realität wir vertrauen und wie wir diese in den Zwischenräumen von Abstraktion und Assoziation, Gefühl und Wissen oder Persönlichem und gesellschaftlichen Normen konstruieren. Mittels Fotografie, Objekten und Sprache lässt sie Spuren von Text, Material und Bild als anekdotenhafte Zustandsbeschreibungen räumlich aufeinandertreffen. Oft begegnen wir stereotypisch romantischen Motiven, wie Tag und Nacht, Fenstern oder dem Mond, die mit einer glatten und kalten Ästhetik konfrontiert sind. Damit entwaffnet Rieben die Elemente ihres symbolischen Wertes und vereint sie mit dem, was sie als «instabile Sinnlichkeit» bezeichnet – einen Zustand an der Grenze zwischen Emotion und Ironie, zwischen Pathos und Leere.
In Yanik Solands Arbeit finden sich Gegenüberstellungen von Komposition und Sound mit visuellen Medien, wie der Zeichnung oder Installation. Seine Zeichnungen werden von persönlichen und mystischen Figuren und Mischwesen bevölkert, die an die Fragmente des Parthenon-Reliefs, Kreaturen aus Science-Fiction-Romanen oder an die übernatürlichen Kreaturen der japanischen Folklore «Ashinaga Tenaga» erinnern. Sie fusionieren zu einem Schmelztiegel der Traditionen und untersuchen ästhetische Aspekte humaner und anthropomorpher Formen. Für seine Performances arbeitet Soland mit selbst gebauten Instrumenten, modularen Synthesizern, E-Bass und Stimme. Als Komponist hat er Musik für Theater geschrieben sowie Video- oder Performance-Soundtracks und Audiostücke entwickelt. 2021 veröffentlichte er sein erstes Solo-Album YUKI.